2. Februar 2012

Leseprobe


Träume
Der reißende Schmerz am linken Schulterblatt brachte Liana an ihre Grenzen. Jede Erschütterung verschlimmerte die Beschwerden. Sie bemerkte das Blut den Rücken herunterrinnen. Die Bäume und Büsche schienen an ihr vorbei zu fliegen, dabei war sie es, die in rasender Geschwindigkeit durch den Wald jagte. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Diese dämonischen Gestalten kamen unaufhörlich näher. Verdammt! Sie hatte doch niemanden etwas getan. Sie rannte immer weiter, so schnell sie nur konnte. Ihr Puls pochte gegen die Schläfen und bei jedem Atemzug spürte sie ein heftiges Ziehen. Ungewohnt laut nahm sie das Knacken der Äste unter ihren panischen Schritten wahr, vor allem aber erschien ihr der nächtliche Wald, wie sanft beleuchte, als würde sie durch eine Infrarotkamera sehen. Ein Schuss krachte. Ein gewaltiger Schmerz durchzog ihren rechten Oberarm. Sie musste entkommen! Ihr Leben hing davon ab. Ihre Knie fühlten sich plötzlich weich an, ihr Magen schien sich umstülpen zu wollen. Liana begann zu taumeln, versuchte dagegen anzukämpfen, dann fiel in die Tiefe.

„Frau Majewski? Alles in Ordnung?“ Mit der hellen Stimme der Nachtschwester fiel ein schmaler Lichtschein durch die Tür zum Ruheraum und riss Liana aus ihrem Alptraum. Wirklich merkwürdige Träume erschwerten Liana in letzter Zeit den dringend benötigten Schlaf.
„Dr. Feller erwartet sie umgehend im OP.“ Die Schwester wartete, bis Liana sich aufrichtete.
„Bin unterwegs.“ Liana rieb sich das Gesicht. Jetzt musste sie schnell wach werden, damit sie konzentriert arbeiten konnte. Sekunden später lief sie den hellbeleuchteten Gang entlang auf die Umkleidekabine zum OP zu. Zum Glück war die Nacht bisher ruhig verlaufen.

Mit desinfizierten Händen und Latexhandschuhen betrat Liana in grüner, steriler Kleidung den weiß gefliesten OP-Saal. Dr. Feller stand bereits vor den CT-Bildern und zupfte seinen Mundschutz zurecht. Liana ging an der Narkoseärztin vorbei. Diese bereitete gerade mit den OP-Schwestern die Patientin, ein junges Mädchen, für die Operation vor.
„Hannah Sperling, vierzehn Jahre alt, Hirnblutung nach Verkehrsunfall.“ Er deutete auf den dunklen Bereich der Aufnahmen. „Der Zustand der Patientin ist kritisch, aber noch stabil.“ Dr. Feller, ein erfahrener Chirurg, begann das Team über den bisherigen Verlauf aufzuklären. Der Nachtwache war zu Dienstbeginn die unterschiedlichen Reaktionen der Pupillen aufgefallen. Kurz darauf bekam das Mädchen einen Krampfanfall, die ein neues CT erforderten.
„Wann ist der Unfall passiert?“ Liana verglich die verschiedenen CT-Bilder. Die ersten waren vor gut drei Stunden entstanden, die neusten vor einer Viertelstunde.
„Gestern Abend. Schürfwunden, Milzriss und multiple Frakturen an den Extremitäten. Das CT des Schädels war zunächst ohne Befund. Er wies auf die ersten CT-Bilder. „Ich denke, Sie erkennen das Problem.“ Dr. Feller wandte sich der Narkoseschwester zu. „Können wir?“
„Alles bereit, Dr. Feller.“ Sie zwinkerte ihm zu. Gerüchten zufolge hatten die beiden ein Verhältnis zueinander, aber das interessierte Liana jetzt nicht.
„Wie wäre es, wenn Sie heute die Operation übernehmen, Frau Majewski? Ich assistiere.“
Liana schoss das Blut ins Gesicht und ihr Herzschlag verdoppelte sich. Erst vorige Woche hatte sie eine Hirnblutung bei einer älteren Frau gestoppt, allerdings unter Anleitung des Chefarztes. Die Verantwortung für ein Leben allein zu tragen, fühlte sich im Moment sehr erdrückend an. Ihre Hände zitterten. Dr. Feller, das wusste Liana von Kollegen, überließ keinem Assistenten einen Eingriff, wenn er nicht von dessen Fähigkeiten überzeugt war. Dies war ihre Chance, zu zeigen, was in ihr steckte, dass sie in der Lage war, das Dazugelernte anzuwenden. Je mehr sie sich konzentrierte, auf ihre Erfahrungen der letzten Monate vertraute, desto sicherer und ruhiger wurde ihre Hand. Während der Operation blieb die Herzfrequenz gleichmäßig und damit auch der Zustand der Patientin stabil.

Nach fünf Stunden streifte sich Liana im Schleusenraum die Latexhandschuhe ab.
Dr. Feller legte ihr anerkennend seine Hand auf die Schulter. „Ausgezeichnete Arbeit, Frau Kollegin. Ich denke, wir haben uns einen Kaffee verdient.“
Liana lächelte stolz. Dr. Feller war eine Koryphäe der Hirnchirurgie. Sein Lob kam einem Ritterschlag gleich, aber es würde auch Neider auf den Plan rufen. Das Tuscheln hier, die feindseligen Blicke der Kollegen dort, kannte Liana nur zu gut. Ihre Begabung zeigte wieder einmal, mit dem Spott ihrer meist älteren Konkurrenten zu leben. Das hatte sie bereits in der Grundschule lernen müssen. Wie vielen Hochbegabte mit phänomenalen intellektuellen Fähigkeiten fiel es ihr schwer, sich in den Kummer und Ängste anderer Menschen hineinzuversetzen. Die Verfassung des Ehepaars Sperling machte es ihr nicht leichter. Die beiden saßen auf dem kleinen Ledersofa im Flur, die Hände ineinander verkrampft, um sich herum ein halbes Dutzend leerer Kaffeebecher. Durch die Schwester angekündigt, schoss Frau Sperling erwartungsvoll in die Höhe, als Liana auf sie zu kam und Blickkontakt zu ihr aufnahm.
„Frau Majewski? Wie geht es Hannah?“
„Ihr Zustand ist jetzt stabil. Sie müssen sich noch einen Moment gedulden, bis sie zu ihrer Tochter können.“ Liana strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Herr Sperling stand ebenfalls auf. Er sah sehr blass aus.
„Wird sie wieder gesund? Wird sie bleibende Schäden davontragen?“ Seine Hände zitterten auffallend.
„Zunächst können wir nur abwarten. Eine Prognose kann zu diesem Zeitpunkt unmöglich gestellt werden.“
„Wie konnten Sie eine solche Blutung nur übersehen? Das hätten Sie doch gleich erkennen vor allem behandeln müssen.“ Liana setzte sich mit den beiden auf das Sofa, nicht dass Herr Sperling am Ende noch umfiel.
„Ich werde Ihnen das erklären. Bei der Computer Tomographie gestern Abend gab es keinen Hinweis auf ein intracerebrales Hämatom.“ Liana gab die medizinischen Fakten an die Eltern weiter.
Herr Sperling wirkte eher verwirrt, als aufgeklärt. Er nickte, „verstehe.“
So ganz sicher war sich Liana nicht, ob ihre Aufgabe damit beendet war. „Nachher wird sich der Professor mit Ihnen zusammensetzten. Er wird Ihnen den Vorfall sowie die Operation noch mal veranschaulichen.“ Sie sah die Eheleute abwechselt an.„Wenn Hannah zu sich kommt und ich sie untersucht habe, kann ich ihnen vielleicht schon mehr sagen.“ Frau Sperling lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes und begann bitter zu weinen. Genau vor dieser Situation hatte sich Liana gefürchtet. Tröstend legte sie Ihre Hand auf den Oberschenkel von Frau Sperling.
„Ich werde mal nachsehen, wann sie zu ihrer Tochter können.“ Liana stand auf. „Ich bin gleich zurück.“




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen