16. April 2015

Vorschau auf Teil 3


Vorbei
Mit der 9:15 Uhr Maschine landete José Luis am Dienstagvormittag in Santa Marta. Diesmal hatte er für mehrere Tage Gepäck dabei, vor allem aber eine bessere Ausrüstung, um für alle Fälle gut ausgestattet zu sein, und er nahm sich einen Mietwagen, damit er flexibel und nicht ständig auf ein Taxi angewiesen war. Zunächst fuhr José Luis an jene Stelle, von wo er zehn Tage zuvor gemeinsam mit Ramirez Renans Villa mit der Wärmebildkamera abgecheckt hatte. Nun nahm er sein Fernglas heraus, um das Haus zu beobachten. Bisher konnte er jedoch niemanden entdecken, weder einen Hausangestellten noch einen der Leibwächter. José Luis zündete sich eine Zigarette an und sah ab und zu zum Anwesen hinüber. Es war herrlich still hier oben auf dem Hügel, nur ein leichter Wind wehte und das Rauschen des Meeres drang gedämpft zu ihm herauf. Deshalb schreckte er zusammen, als sein Handy klingelte und diese erholsame Ruhe unterbrach. Das Display kündigte ›Orlando‹ als Anrufer an. „Deine Vermutung hat sich bestätigt“, begann Orlando das Telefonat, „gestern Früh landete in Bogotá ein Privatjet aus Santa Marta mit einem Transport zum Zentralfriedhof. Ich habe jemand hinterhergeschickt, unauffällig versteht sich. Es ging direkt zur Familiengruft der Nicoljaros. Am späten Nachmittag flog die Maschine zurück.“ José Luis spürte ein Lächeln auf seine Lippen, „dann hatte es Renan am Ende also doch erwischt.“ Es gab eigentlich auch keinen Grund Ramirez‘ Behauptung anzuzweifeln. „Ich habe auf den Namen Rodríguez weitere Einträge für Privatflüge gefunden“, Orlando machte eine kleine Pause, „unter anderem vor siebzehn Wochen, und zwar genau an dem Tag von Antonios Verschwinden entdeckte ich einen Flug von Bogotá nach San José zum ›Juan Santamaría Flughafen‹“, endete Orlando. José Luis schlug sich auf die Stirn. „Ich Idiot!“ Um Antonio zu finden, war er zahlreiche Möglichkeiten durchgegangen, aber dass er nach Costa Rica entführt worden war, hatte er leider nicht in Betracht gezogen. „Gracias! Das ist wirklich sehr hilfreich.“ „Du schuldest mir inzwischen einiges“, erinnerte ihn Orlando. „Definitiv!“, beendete José Luis das Telefongespräch. Renan hatte demzufolge Antonio nach San José gebracht, um ihm vermutlich dort neue Kniegelenke einsetzen zu lassen. Costa Rica war, im Vergleich zu den übrigen Ländern in Mittelamerika, bekannt für die ausgezeichnete Gesundheitsversorgung. Mit diesem Wissen wollte José Luis sofort nach Taganga. Er packte sein Fernglas in die Tasche und ging zum seinem Leihwagen, einem silberfarbenen Chevrolet Prisma, zurück. Welches Problem auch immer Antonio in Santa Marta festhielt, er würde mit ihm eine Lösung finden, dessen war sich José Luis sicher. Während der dreißigminütigen Fahrt von Rodadero nach Taganga spürte José Luis seine Aufregung wachsen. In den beinah dreizehn Jahren, die er mit Antonio zusammengearbeitet hatte, gab es viele Höhepunkte, mehrere brenzlige Situationen sowie bewegende Momente. Damit hatte er Antonio intensiv von verschiedenen Seiten kennengelernt, kannte seine Vorlieben, seine Stärken und Schwächen, wusste vor allem um seine Herzensangelegenheiten, die er besonders an ihm schätzte. Antonio nach all den Wochen ohne ein Lebenszeichen endlich wiederzusehen, erhöhte seine Anspannung, zumal er nicht wusste, was ihn erwartete. Letztlich bog José Luis von der Hauptstraße auf den leicht abschüssigen Schotterweg ab und parkte den Wagen vor der gemauerten Grundstücksgrenze. Bevor er ausstieg, wischte er sich seine vor Aufregung feuchten Handflächen an seiner Hose trocken. Zuerst überlegte er, sich noch eine Zigarette anzuzünden, ging dann aber voller Ungeduld, Antonio endlich wiederzusehen, auf das Gittertor zu und betätigte den Klingelknopf. Einen Moment später hörte er durch die Gegensprechanlage eine Frauenstimme, „Qué desea?“. „Mein Name ist José Luis Núñez. Ich möchte zu“, mit Antonio würde die Señora vermutlich nichts anfangen können, „Señor Rodríguez.“ Die Stimme schien einen Augenblick zu zögern, „Don Rodríguez ist nicht zu Hause.“ Im Hintergrund meinte José Luis eine hellere Männerstimme zu hören; Antonio war es definitiv nicht. Unerwartet öffnete sich das Tor vor ihm automatisch. José Luis betrat den Vorgarten. „Kommen Sie herein, Señor Núñez“, drang hinter ihm die Aufforderung aus der Sprechanlage. José Luis ging auf den breiten Hauseingang zu. Eine kleine, rundliche, sympathisch aussehende Frau Ende fünfzig, wahrscheinlich die Haushälterin, öffnete die Haustür. „Señor Fonseca möchte mit Ihnen sprechen.“ Sie trat zur Seite und wies auf den großzügigen Wohnbereich. Ein großer, athletischer Mann mittleren Alters mit kurzem Haar kam ihm entgegen. „Ich nehme an, Sie kennen Nic, Señor Núñez?“ José Luis benötigte einen Augenblick, bis er ›Nic‹ mit Antonio in Verbindung brachte. Er grinste, „das möchte ich wohl meinen. Ist er da?“ Señor Fonseca musterte ihn von oben bis unten. „Nic hat Sie nie erwähnt. Sind Sie ein Freund?“, betonte er das letzte Wort auffallend weich. José Luis studierte für einen Moment das makellose Gesicht seines Gegenübers, „ja, so könnte man es nennen.“ Dann ließ er seinen Blick durch das modern eingerichtete Wohnzimmer schweifen. „Nicht schlecht! Wo steckt er?“ Señor Fonseca seufzte tief, „setzten Sie sich“, wies er zur Couch. Die zahlreichen moosgrünen Kissen wirkten gemütlich. „Ich wusste ja, dass es Nic in letzter Zeit nicht so gut ging, aber dass dieser Streit mit seinem Vater so enden würde ...“, fahrig rieb er sich den Oberlippenbart, „gestern Abend überbrachte die Polizei eine schlimme Nachricht“, er schluckte, offensichtlich suchte er nach Worten. José Luis versuchte unterdessen, sich einen Reim darauf zu machen, wer dieser Señor Fonseca war und welche Rolle er an Antonios Seite gespielt haben mochte. Señor Fonsecas Stimme zitterte, „auf der Route 62, auf der kurvigen Strecke vor Medellín gab es einen Frontalzusammenstoß mit einem LKW. Der PKW wurde als Nics Touareg identifiziert.“ José Luis hörte gespannt zu, als Señor Fonseca leise weitersprach. „Die Fahrzeuge sollen sofort in Flammen aufgegangen sein. - Während der LKW-Fahrer sich noch ins Freie retten konnte, verbrannte der Insasse des PKWs.“ Prompt dachte José Luis daran, dass Renan seine Finger im Spiel hatte. - War der Mistkerl doch nicht tot? Wer wurde dann in der Familiengruft beigesetzt? Verpasste der Onkel Antonio schon wieder eine neue Identität, weil er ihm auf die Schliche gekommen war? José Luis würde von vorn anfangen müssen. Nein! Es war schwer, den Überblick in diesem Lügenchaos zu behalten. Um zumindest ein paar Hintergrundinformationen zu erhalten, fragte José Luis genauer nach, „worum ging es in dem Streit?“ Señor Fonseca zuckte mit den Schultern, „ich war nicht dabei. Nic ist am Donnerstag gleich nach dem Streit mit seinem Wagen weggefahren. Seither gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm.“ José Luis sah zu seiner Theorie keinen Zusammenhang, „hat er ein Handy?“ Señor Fonseca nickte, „er hat es vermutlich ausgeschaltet.“ „Kann ich die Nummer haben?“, José Luis holte sein Smartphone hervor. „Ich glaube, Sie haben mir nicht zugehört“, sagte Señor Fonseca mit Nachdruck. „Sein Touareg ...“ José Luis fiel ihm ins Wort, „wurde die Leiche identifiziert?“ Señor Fonseca schüttelte den Kopf. „Sehen Sie, und solange ich keinen Beweis habe, dass Antonio da dringesessen hat, glaube ich diesen Unsinn nicht.“ „Unsinn? Hören Sie mal!“ Señor Fonseca stutzte, „wer ist überhaupt Antonio?“ Señor Fonseca zog seine Stirn in Falten. „Ihr Nicolás Rodríguez ist in Wahrheit Antonio Nicoljaro“, erklärte José Luis. Señor Fonseca sah jetzt auffallend blass aus, „und wer war Rique, ich meine Enrique?“ „War?“, fragte José Luis erstaunt. Zu gern hätte er in dieser Situation eine Zigarette geraucht. Señor Fonseca schien merklich unruhig. „Kurz nach dem Streit, während Nic das Gebäude verließ, wurde Enrique erschossen. Er war sofort tot; zumindest haben das seine Leibwächter behauptet.“ Für José Luis war das Musik in seinen Ohren. Nur warum kehrte Antonio nicht nach Bogotá zurück? Seit Donnerstag waren immerhin fünf Tage vergangen. Und wer war dieser Kerl hier? „In Ordnung, dann mal Karten auf den Tisch. Wer sind Sie?“